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Wolfgang Schorlau & Claudio Caiolo / Der freie Hund

Wirklich faszinierend ist das Autorenteam: Schorlau, der Altlinke, der mit seinen gesellschaftskritischen Dengler-Krimis schon Kultstatus erreicht hat, und der Theatermann Caiolo (an den ich mich gern als Pathologe Sabato in den Marthaler-Verfilmungen erinnere)  -  da haben sich zwei zusammen getan, um eine neue Krimi-Reihe mit einem sizilianischen Nonkonformisten, dem freien Hund, aufzustellen. In Venedig!

Ob die Venezianer nun wirklich glauben, dass die Mafia bei Ihnen nicht tätig ist, sei einmal dahingestellt.

Das tiefe Misstrauen, ja vielleicht gar die Abneigung, die einem, der aus Sizilien kommt, in dieser Stadt und speziell in der Polizei entgegenschlagen, das kann man sich aber wirklich gut vorstellen.

Der Plot um den Tod eines Sohnes aus reichem Hause ist gut mit der Geschichte des Hauptdarstellers verwoben. Es geht um die weniger schönen Seiten des Kreuzfahrttourismus, wirtschaftliche Abhängigkeiten, Umweltprobleme und Überfremdung von Städten. Das Buch liest sich unterhaltsam und spannend und die schöne Stadt Venedig erscheint nicht so ganz betulich wie bei Donna Leon‘s Brunetti-Geschichten. Der Klüngel in der Stadt, in der nur ein paar alte (reiche) Familien das Sagen haben, scheint jedoch der gleiche. Sehr spannend, wirklich unterhaltsam – ein netter Krimi.

Einmal ordentlich Mafia, bitte!

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Michael Scharang / Aufruhr

Der sprachmächtige und unverwüstliche Altlinke aus Österreich hat diesmal eine wirklich schöne Geschichte geschrieben: ein Amerikaner aus Brooklyn hilft den Umsturz in Österreich anzustoßen. Köstlich! Der erste Satz ist Programm: "Diese Geschichte begann in New York, fand ihre Fortsetzung in Wien und endete damit, dass die österreichische Regierung ins Ausland flüchtete." Nach Ibiza? Ich verrate nichts, lest diesen frechen und lustigen Roman selbst. Starkes Buch!

Revolution - warum nicht!

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Ralf Frenzel / Das Gute leben – Hausmannskost

Wie schon in seinem bestverkauften kreativen Vorgänger „365 Tage – das Gute leben“ präsentiert Ralf Frenzel wieder eine Gerichteauswahl für 365 Tage  -  diesmal aber mit dem Fokus auf Hausmannskost. Einfach und klassisch zuzubereiten, wunderschön fotografiert auf tollem, angenehmen Papier. Ein Spaßbuch, mit Bulettenrezept und Sauerbraten und Milchreis  -  mir läuft’s Wasser im Mund zusammen schon beim Schreiben. Und ich bin heute mit Kochen dran, juhu.

Her mit der Bulette!

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Davina Bell / Was du nicht alles kannst!

Ich habe das Büchlein mit großer Freude durchgeblättert, kann es aber nicht besser als das Verlagsmarketing formulieren, daher zitiere ich:

Fledermäuse basteln, die Uhr lesen, Schiffchen bauen, malen, auf Drachen reiten, andere trösten, auf der Ukulele schrammeln, Schätze suchen, auf andere zugehen, Fragen stellen, tanzen, tagträumen - es gibt viel wichtigere Sachen im Leben eines Kindes als 'besser - schneller - weiter', als Schularbeiten und Tests, nämlich Fantasie und Herzensbildung und jede Menge Lebensfreude. Davina Bell und Allison Colpoys rauschen mit den Leserinnen und Lesern in gewitzten Reimen und knallig-fröhlichen Bildern durch all das, worin Kinder jeden Tag ganz nebenbei aufgehen und glänzen. Und zeigen dabei: Jeder kann etwas anderes gut, denn jeder ist einzigartig.

Dieses lebendige, farbenfrohe Buch feiert all die Dinge, die jedes einzelne Kind ausmachen und ihm Wert verleihen - und das ist mehr als gute Noten, Stillsitzen und Bravsein.

Ich kann dem nur zustimmen: Hinbimsen zu guten Noten ist nicht alles, überlasst das Benchmarking ruhig den Managern. Ich selbst durfte ja auchmal eine Klasse wiederholen  -  und dass nicht nur, weil ich Schule so toll fand …

Motivation darf sein!

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Nikil Mukerji & Adriano Mannino / Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit

Krise ist Zeit der Exekutive, so sagt man. Aber trotzdem sollten wir uns mit den verbundenen, durchaus existenziellen Fragen beschäftigen; was geschieht mit uns, unserem Leben, unseren Ein- und Ansichten. Ein kleines, ein schmales Büchlein, aber ein Schwergewicht an Inhalt und Anregung. Wenn ich nur dieses Zitat auf Seite 11 sehe: „Ich schreibe euch aus Italien, also aus eurer Zukunft. […] Die Grafiken der Pandemie zeigen, dass wir in einem parallelen Tanz miteinander verbunden sind …“

Mich stimmt das Büchlein nachdenklich, melancholisch  -  und nicht nur optimistisch, aber durchaus streitbar.

Was bedeutet das alles?

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Dusse Karsten / Das Kind in mir will achtsam morden

 

Ich hab’s noch nicht gelesen, aber weil’s schnell gehen sollte, nehme ich ausnahmsweise mal den Verlagstext (beim Band 1 hat er ja auch gestimmt …):

Björn Diemel ist zurück - und mordet ganzheitlicher als je zuvor

Björn Diemel hat die Prinzipien der Achtsamkeit erlernt, und mit ihrer Hilfe sein Leben verbessert. Er hat den stressigen Job gekündigt und sich selbstständig gemacht. Er verbringt mehr Zeit mit seiner Tochter und streitet sich in der Regel liebevoller mit seiner Frau. Ach ja, und nebenbei führt er noch ganz entspannt zwei Mafia-Clans, weil er den Chef des einen ermordet und den des anderen im Keller eines Kindergartens eingekerkert hat. Warum nur kann Björn das alles nicht genießen? Warum verliert er ständig die Beherrschung? Hat er das Morden einfach satt? Ganz so einfach ist es nicht. Sein Therapeut Joschka Breitner bringt ihn endlich auf die richtige Spur: Es liegt an Björns innerem Kind!

Viel Vergnügen!

 

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Anna Burns / Milchmann

 

Mit diesem wunderbarem Buch hat Anna Burns 2018 den Man Booker Prize gewonnen  -  mehr geht nicht im englischsprachigen Raum. Aber wofür?

Einerseits ist Milchmann ein irrsinnig langer, gelegentlich quälender Monolog einer erwachsenen Frau über ihre Zeit des Erwachsenwerdens.

Andererseits ist Milchmann ein Blick in eine Gesellschaft im „Krisenmodus“  -  es herrscht Bürgerkrieg in Nordirland. Und wer dachte, alles über Illiberalität, über archaisch-religiöse Strukturen in einer scheinbar modernen Welt, zu wissen  -  das hier hat nochmal andere Formen, brutal.

Und es ist ein Buch über sexuelle Gewalt, ein Zeugnis der Macht eines älteren Mannes über die Freiheit eines jungen hübschen Mädchens. Was muss sie kämpfen, sich arrangieren, sich winden. Unglaublich.

Ich halte es in der Tat für eines der besten Bücher in diesem Jahr: Es ist beklemmend, und doch löst sich diese Beklemmung immer wieder in sarkastischem, grellen Humor auf. Es ist sperrig, und es finden sich doch immer wieder wunderschön perlende poetische Phasen.

Aber, es ist ein Buch für „geübte Leser“. Bei denen wird es zu großem Genuss, kann Spaß, auf jeden Fall viele Emotionen auslösen. Große Literatur! 

Ich möchte noch (ohne Zeigefinger!) Folgendes hinzufügen: ich schaue ja immer ganz gern bei der großen Konkurrenz, was die mehr oder weniger angeheuerten Privatrezensenten so von sich geben. Dieses schöne Stück Literatur wird tatsächlich auch übel verrissen  -  von Leuten, die ganz offenkundig kein Bewusstsein, kein Wissen über die 70er/80er Jahre in Nordirland haben, über diesen fürchterlichen Religionskrieg, der jetzt Dank Brexit wieder aufzuleben droht. Insofern muss ich mich etwas korrigieren: Geübt als Leser zu sein ist hier schon wichtig, aber es ist wohl noch wichtiger zu wissen, worüber man liest.

Ich wiederhole mich: ein großes Buch!

Her damit!