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Christoph Möllers / Freiheitsgrade

Über das Buch: Bei seinem Versuch, den Liberalismus auf die Höhe der Zeit zu bringen, versucht Christoph Möllers, Formen einer Ordnung herauszupräparieren, die Bewegungsfreiheit und soziale Varianz ermöglicht. So gerüstet, verspricht er keine Antworten, aber neue Perspektiven auf diverse Phänomene wie die Funktion territorialer Grenzen. Freiheit, so Möllers, ist eine Praxis der Ergebnisoffenheit, die Prozesse ermöglicht, von denen unklar sein muss, wohin sie führen.

Jurybegründung: Christoph Möllers analysiert die Abstufungen des Freiheitsbegriffs und nennt sie Freiheitsgrade. Seine Philosophie des Rechts schließt Überlegungen dazu ein, wie das Recht ausgelegt wird und welche Folgen das hat. Bravourös und fundiert erinnert Möllers an den demokratischen Kontext von Rechtsauffassung und daran wie Freiheit wirkt, d. h. Freiheit ist nicht naturgegeben, sondern immer schon ein Phänomen der gesellschaftlichen Zuweisung. Wo bleibt die Individualität? Wie kann der Liberalismus funktionieren? Möllers plädiert für eine Neubestimmung des Liberalismus, denn allein diese Neujustierung kann sich den Herausforderungen der Zukunft im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit und ökologische Perspektiven stellen. Eine starke These für eine notwendige und dringliche Debatte.

Leseprobe: Der Umgang mit dem Begriff Liberalismus ist auch deswegen schwierig, weil er nicht nur historisch, sondern auch kulturell, sowohl diachron als auch synchron, so verschieden gebraucht wird. Richten sich die rechten Kritiker des Liberalismus ebenso gegen amerikanische Linke, die sich »liberals« nennen, wie gegen neoliberale Ökonomen, gegen Bernie Sanders wie gegen Friedrich August von Hayek? Teilen diese beiden gehaltvolle politische Inhalte?

Her damit!

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Volker Reinhardt / Die Macht der Seuche

Nein, die erste Idee eines Vergleichs der Corona Pandemie mit der Pest im 14. Jahrhundert erscheint eher abwegig. Zu verschieden sind die Lebensbedingungen, die medizinischen Möglichkeiten, die Informationsverbreitung und vieles andere mehr. Aber auch die Pest breitete sich von China über Orte am Schwarzen Meer in die Staaten des südlichen Mittelmeers und nach Westen aus. Ein wesentliches Verbreitungsmittel waren die Galeeren – ein damals für den Handel wichtiges Verkehrsmittel, noch Fragen?

Nein, Volker Reinhardt erliegt nicht dem simplen Blick auf diese Ähnlichkeiten. Er stellt sehr deutlich die Zweifel an manchen historischen Quellen dar, versucht über Vergleiche mehrerer zeitgenössischer Aussagen sich an Wahrscheinliches zu halten. Und stellt dennoch ganz ähnliche Fragen, wie sie heute aktuell sind: Werden Reich und Arm gleich getroffen? Wie werden die Ursachen erklärt? Wem fallen die besten Schuldzuweisungen ein? … usw.

Hauptsächlich ist dieses Buch aber ein Eintauchen in eine Zeit, die wohl viele Leser nicht so präsent in ihrem Geschichtswissen haben. Man erfährt über die Zeiten der Pest in den Städten Europas, über heute undenkbare, unerträgliche Lebensumstände, und darüber, wie die Menschen die Heimsuchung erlebt haben. Es bleiben aber auch Fragen offen, z.B. warum gerade in Polen keine Ausbreitung der Pest zu verzeichnen war.

Breiten Raum widmet der Autor Überlegungen unter dem Titel „die Menschen nach der Pest“ und hier ist es sicher gewollt, dass sich der Leser den einen oder anderen Gedanken zum Umgang mit der heutigen Pandemie und zu den Zeiten danach macht. Wie der Autor, das entscheidet, wird nicht verraten, aber der Epilog (!) ist auf jeden Fall lesenswert – wie das ganze Buch.

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Takis Würger / Noah

Takis Würger wird vom Feuilleton nicht geliebt. Na gut, „Stella“ war schon grenzwertig und obendrein nicht wirklich gut geschrieben.

„Noah“ aber ist klasse. Die Lebensgeschichte des Noah Klieger, der die Verfolgung durch Nazis, der Auschwitz und den Exodus überlebt hat, der in Israel dann eine weltweit beachtete Karriere als Sportreporter hinlegte  -  das ist beeindruckend geschrieben. Auch unfassbarste Grausamkeiten der Nazischergen werden in einer unaufgeregten, geradezu lakonischen Sprache geschildert. Gerade dieses Unsentimentale, dieses scheinbar Unempörte machte mich zutiefst betroffen. Ein erschütterndes Buch. Wer da von einem „Vogelschiss in der Geschichte“ spricht, macht sich schuldig, stellt sich ins Abseits.

Ein phänomenales Buch, ein einfühlsamer Autor.

Her damit!

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Pascal Mercier / Das Gewicht der Worte

Ich hab’s ja manchmal mit den Lektor*innen, ich weiß; nicht immer gerecht oder professionell, aber gerade hier, bei diesem Buch denke ich, empfinde ich: weniger wäre mehr gewesen.

Vielleicht waren es ja vorher 1000 Seiten Manuskript, ich habe keine Ahnung. Aber auch jetzt, noch volle 572 Seiten: Passagen von brillanter Luzidität, von fabelhafter poetischer Prosa, werden abgelöst von Passagen unerträglicher Larmoyanz, von aufgeplusterter Geschwätzigkeit.

Das Leben, die Umstände, die hier geschildert, abgebildet werden, sind über alle Maßen idealisiert - wo hat Mercier das her? Kein Stress im Verlagsleben, Übersetzer ohne Existenzdruck, alle haben Zeit Zeit Zeit, bekümmern sich stets um Andere. Ja, man möchte fast ein italienisches Gefängnis, insb. den Flügel mit den Albanern, als Urlaubshotel buchen.

Nach der Hälfte weiß ich immer noch nicht, wo Mercier hin will. Eigentlich will ich aufhören, mich nicht ärgern müssen. Andererseits: Ich habe direkt nach dem Schreiben dieser Zeilen darüber mit meiner Frau diskutiert. Über dieses Buch, über meine Haltung dazu, über die Wirkung auf mich. Ich habe auf die für mich unmögliche Grundsituation hingewiesen - ein ärztliches Todesurteil für den Protagonisten aufgrund einer Verwechslung. Ohne eine zweite Meinung, ja, ohne auch nur nachzufragen, nimmt der Held der Geschichte das Urteil, will seinen Nachlass ordnen und bereitet den erlösenden Freitod vor. Das passt alles nicht.

Die Diskussion war emotional. Was kann Literatur. Was darf Literatur. Eine lebhafte Diskussion mit richtig guten Argumenten auf beiden Seiten! Ein echter Disput: was wollen, können Bücher mehr erreichen? Ich werde weiter lesen!

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Ray Bradbury / Fahrenheit

 
Trauer muss nicht nur Elektra tragen, trauern müssen wir alle - es ist schrecklich, was alles verloren geht, wie viele Menschen krank werden, sterben. Und irgendwie ist kein Ende in Sicht; kein Licht am Tunnelende, sondern Mutanten.
Ach, in meiner Jugend waren Mutanten Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, Wesen mit der Berufung, Gutes zu tun. Na ja, ‘n paar böse gab’s auch, schon wahr. Aber heute - irgendwie übertrieben, oder? Politiker scheinen nur noch angstgesteuert, wer was auf sich hält, ersinnt Verbote.
Da halte ich heute gegen, ich werde hymnisch loben, beginnend mit dem Verbotsbuch schlechthin – Fahrenheit 451:
Seit geraumer Zeit ist es ja so eine Art Mode geworden, ältere Titel neu aufzulegen oder, finanziell unterstützt durch irgendwelche Stiftungen oder Förderungen, neu zu übersetzen. Das kann auch in die Hose gehen, vor allem, wenn die wundersame Neuübertragung lustlos lektoriert wird. So geschehen bei dem Versuch, den Malteser Falken endlich werkgetreu zu übersetzen. Schrecklich, verhunzt. Und auch hier gilt halt, dass die Zeit irgendwie drüber gegangen sein kann.
So geschehen auch bei Hansers Versuch, den Lederstrumpf im frischen Gewand, und um allerlei damals nicht übersetzte Passagen erweitert, unters Volk zu bringen. Ja, die seinerzeit weg gelassenen Passagen sind auch heute entsetzlich langatmig. Oder Klett-Cotta‘s mit editorischen Anmerkungen aufgewertete Nero-Wolfe-Übersetzungen. Wirklich feine, sogar feinste Kost - aber leider verkaufen sich nun einmal Burger besser als Langustenschwänze … Sang- und klanglos eingestellt; in diesem Fall leider.
Und dann so etwas: 2020 darf Peter Torberg Fahrenheit 451 von Ray Bradbury für Diogenes neu übersetzen. Und er macht das wunderbar, eine Wucht von einem Buch entsteht.
Fahrenheit 451 ist die Temperatur, bei der Papier Feuer fängt, verbrennt. Bücher z.B..
Guy Montag, der Held?, doch, ja, der Held dieser Geschichte, ist Feuermann. Er verbrennt Bücher und Bibliotheken, denn in seiner Welt darf nicht mehr gelesen werde. Es wird ferngesehen, wie blöd, gar zum verblöden.
Unserem Helden wird immer unwohler bei dieser Aufgabe. Bücher üben einen unerklärlichen Reiz auf ihn aus, aber Leser sind erheblichen Lebensgefahren ausgesetzt …
Bradbury beschreibt visionär eine Welt, von der ich manchmal denke, dass wir direkt darauf zu steuern. Und auch in diesem Fall ist das Dystopische doppelt schrecklich, denn wie Ungarn, wie Polen, wie (bis vor Kurzem?) die USA: die Leute haben es selbst gewählt. Träge, voller Unverstand.
Der Übersetzer Peter Torberg weckt die tiefe, die überwältigende poetische Kraft des Textes. Das ist große Klasse, über alle Maßen lesenswert. Und sollte schnellstens Pflichtlektüre an Schulen werden!

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Christa Ludwig / alle Farben weiß

Wir kennen Christa Ludwig als Kinderbuch-Autorin, hier nun schreibt sie „für Senioren“: Eine junge Frau sucht ihren Weg im Leben; ist etwas sperrig, nicht unbedingt sympathisch. Sie macht es auch dem Leser nicht leicht.

Aber die Geschichte fängt einen doch ein. Der ungewollte Weg vom Traum, Künstlerin zu sein hin zum Broterwerb „Restaurieren“ ist nachvollziehbar, die Erfüllung darin einfach schön beschrieben.

Kein Mainstream, ganz bestimmt nicht. Und überhaupt nicht spektakulär. Einfach eine schöne Geschichte mit dem erstaunlichen Effekt, dass man das Buch nicht einfach zuklappt. Nein, es bleibt auch nach dem Lesen lange bei einem.

Überzeugt euch selbst!

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Mark Billingham / Ein Herz und keine Seele

Der Autor ist dem einen oder anderen vielleicht schon von dem Roman „Die Lügen der Anderen“ ein Begriff. Mark Billingham arbeitete auch als Schauspieler und Stand-up-Comedian; zum Schreiben wurde er nach eigenen Angaben auch dadurch inspiriert, dass er selbst Opfer eines Verbrechens war.

Ein Herz und keine Seele ist eine Tom Thorne-Geschichte. Diese Reihe ist ein großer Erfolg des Autors, die in unregelmäßigen Abständen fortgesetzt wurde. Tom Thorne und seine Partnerin sind beides sehr eigenwillige Ermittler, für jeden Vorgesetzten eine Herausforderung. Auch die private Seite der beiden wird immer wieder beleuchtet.

In diesem Fall geht es um einen Betrüger, der sich Frauen gefügig macht und diese dann um ihr Vermögen bringt. Auf der Suche nach seinem nächsten Opfer gerät er jedoch an eine sehr spezielle Frau. Mehr kann man nicht verraten, aber der Detective Inspector und seine Partnerin haben einen langen Weg vor sich.

Nicht unbedingt eine Bettlektüre!

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