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Martin Walker / Provokateure

Bruno, Chef de Police, ist ja inzwischen ein alter Bekannter mit einer eigenen Geschichte neben den zu lösenden Fällen. Diese wird auch im neuen Buch weiter geführt, wenngleich ein wenig unentschlossen, als wisse der Autor selbst nicht, wohin sich das entwickeln will.

Die kriminalistische Geschichte des Buches ist dagegen wie immer mit aktuellen Bezügen (in diesem Band wirklich gut gelungen) und Anknüpfungen in der Vergangenheit durchkomponiert.

Grundsätzlich also nichts Innovatives, wer aber die Geschichten aus dem Perigord mag, wird auch an dieser sein (auch kulinarisches!) Lesevergnügen finden.

Da habe ich Appetit drauf

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Rainer Stach / Kafka – Die frühen Jahre

Kürzlich hatte ich das große Vergnügen, Rainer Stach selbst zum dritten Teil seiner Kafka-Biografie „Die frühen Jahre“ sprechen zu hören. Das Werk ist ja ein bisschen wie Star Wars: Band 3 kam zuerst, und jetzt, zum Schluss, keine Koketterie, sondern der Recherche geschuldet, der Beginn. In seiner opulenten Gesamtheit sehen wir hier ein neues Standardwerk über Kafka.

Das aber vergnüglich zu lesen ist! Insbesondere Band 3 ist es ein fantastisches Buch, ein Roman von einer Biografie, spannend, ergreifend. Und viel mehr als eine Biografie Kafkas, eigentlich eine Biografie Prags, ein Gemälde einer Zeit im Umbruch. Wir begreifen, wie es zum Dreißigjährigen Krieg kommen konnte, was den Boden für den Ersten Weltkrieg bereitete. Und das Ganze macht, bei aller ausgeprägter (!) Weitschweifigkeit, einen vorzüglichen Spaß beim Lesen. Stach scheint nicht nur alles zu wissen, er kann es auch virtuos schildern. Irgendwie schien er dabei gewesen zu sein. (Weite Teile des Buches hatte ich übrigens schon vor dieser Veranstaltung gelesen, die Begeisterung ist also echt!)

Es gibt ja diese sanft mäanderndes Biografien, die immer Kurs halten, vielleicht mal hier, mal da kurz inne halten, dann weiter in Richtung Ziel.

Nicht so Stach: Er ist mehr so der Typ, der Steinchen in den See wirft: kleine kreisrunde Wellen, die sich immer weiter ausbreiten. Je größer der Stein, desto weiter reicht die Welle. Da kann es schon passieren, dass man unmittelbar nach Kafkas Geburt luzide Informationen zum Prager Fenstersturz bekommt; der Jüngling Kafka geht gern Schwimmen und wir erfahren viel über die tiefenpsychologische Bedeutung dieser Ertüchtigung. Ich hätte ja gedacht: der schwimmt halt gern. Ach was, weit gefehlt. Aber: Lesen Sie lieber selbst! Sprachlich ist diese Biografie ein Genuss, historisch erhellend, und, wer Kafka mag, der …

… muss das Buch sowieso haben.

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Franz Dobler / Ein Bulle im Zug

Der Polizist Fallner hat einen jungen Kriminellen erschossen. Er meint: in Notwehr. Kollegen und „Innere“ sind da nicht so sicher. Eine blöde, zerstörende Situation. Fallner setzt sich, bewaffnet mit einer Bahncard 100, in den Zug. Einfach raus, Luft holen, Therapie, zu sich finden, hin und her durch ein fremdes Deutschland, seltsame Begegnungen.

So weit, so gut. Dann aber geht es ab, fast wie in „Naked Lunch“: Rückblenden und Wunschträume des Geschehens, Halluzinationen. Das junge Opfer meldet sich zu Wort, klagt Fallner an, verhöhnt ihn. Albträume und Realität verschwimmen. Was ist böse, was ist böser Traum? Dann erkennt man allmählich Mosaiksteinchen, ein Bild fügt sich. Sehr spannend.

Wer einen coolen Elmore Leonard, einen toughen Lee Child oder einen braven Jan Seghers erwartet: weiter blättern. Wer sich auf einen höllischen Psychotrip einlassen kann und will, der ist bei Dobler richtig. Und, übrigens: Ja, es ist ein Krimi. Und ja, die Bösen werden gefunden. Es gibt sie!

Ein teilweise unwirkliches, aber wirklich gutes Buch. Fantastisch zu lesen.

Muss ich haben

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David Whitehouse / Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek

Na ja, der Begriff der „Reise“ ist hier weit gefasst und kann missverstanden werden. Es ist natürlich eine Flucht. Und, wie wir von der ersten Seite an wissen: ohne Erfolg. Ja, die „Flucht“ war scheinbar erfolglos, aber die Reisenden im Bücherbus haben durchaus etwas erreicht.

Diese Reisenden, das sind lauter Unterprivilegierte, ein zwölfjähriger Sonderling, eine alleinerziehende Putzfrau mit behinderter Tochter, ein gesuchter Verbrecher - und ein ganzer Bus voller Bücher. Und da fängt für mich das Faszinosum schon an: Whitehouse verbindet Weltliteratur mit der brutalen Welt derer „da unten“, schildert krasse Ereignisse und elendes Leben auch so, wie sie sind. Und das nun gerade in einer Sprache, deren Schönheit und Witz, deren Verspieltheit sich manchmal erst nach einem zweiten Lesen erschließen - und die so gar nicht zum Inhalt passen sollte, es wunderbarerweise aber tut. Perfekt. Kein Buch für’s „speed reading“, gewiss nicht. Es geht auch nicht immer logisch und linear zu in diesem sensationellen Plot, aber immer spannend und unterhaltend, im besten Sinne lesenswert. Ein kleines Beispiel:

„In jedem Buch gibt es irgendeinen Hinweis auf dein eigenes Leben“, sagte sie. „Auf diese Weise sind die Geschichten alle miteinander verbunden. Du erweckst sie zum Leben, wenn du sie liest, und dann wirst du das, was darin passiert, auch selbst erleben.“

„Das glaub ich nicht, dass ich Sachen erlebe, die in irgendwelchen Büchern stehen“, sagte er.

„Da irrst du dich aber“, antwortete sie. „Du hast es einfach noch nicht erkannt.“

Ein wirklich tolles Buch!

Doch, das schau ich mir an!

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Klaus Binder / Lukrez – Über die Dinge der Natur

Kürzlich habe ich diese Neuübersetzung vom Lukrez in die Hände genommen, ja, und auch drin geblättert, mal kurz angelesen. Über Stunden nicht mehr aufgehört damit, das Telefon Telefon sein lassen, fast auch die Mittagspause: Es ist ein großer Wurf, beglückend, inspirierend, noch immer purzeln meine Gedanken und Assoziationen durcheinander. Aber, der Reihe nach:

Im Jahre 2012 erschien Stephen Greenblatts „Die Wende“, das für mich literarisch aufregendste Sachbuch des Jahres. Es erzählt die Geschichte der Wiederentdeckung eines verschollenen Manuskriptes, nämlich Lukrez‘ „De rerum natura“ und beschreibt die Wirkmächtigkeit dieses Textes als einen wichtigen Baustein zur Überwindung des finsteren Mittelalters. Ein schönes, dabei sehr lesbares Buch, das natürlich als Lobgesang aufs Epikuräische bei „Atheisten“ stärkeren Anklang fand.

Leider gab es zu der Zeit nur doch recht holprige, in die Reimform des Originals gepresste Übersetzungen ins Deutsche, die wohl auch inhaltlich die Ideenwelt Lukrez‘ nicht gut wiederspiegelten; man wollte der „Wende“ weiter nachspüren, verlor aber bald das Interesse, da diese Übertragungen keinerlei Strahlkraft hatten. Das hat nun endlich ein Ende:

Binder entscheidet sich für eine Übersetzung ins Prosa-Deutsche, wunderbar rhythmisch, fließend zu lesen. Schon nach wenigen Zeilen taucht man in die Gedankenwelt dieses klassischen Meisterwerkes ein und staunt über den Reichtum an Wissen, an Natur- und Menschenverständnis, an einer opulenten Beobachtungslust, die es vor über 2000 Jahren in Roms Blütezeit gab.

Natürlich wissen wir Vieles heute besser, sind wissenschaftlich aufgeklärt. Aber sind wir wirklich aufgeklärter? Was ist all unser Wissen wert?

Lassen Sie sich verzaubern von einer saftigen Sprache, von einer sinnenfrohen, lebensbejahenden Gedankenwelt, die anders ist als unser christliches Weltbild und doch reich an Ethik, an Maß, an Menschlichkeit. Und die einen wonnevollen, vergnüglichen Lesespaß bietet. Ich liebe dieses Buch.

Ja, den Lukrez möchte ich!

Und warum nicht den Greenblatt?

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Jan Wagner / Regentonnenvariationen

Normalerweise versuche ich es zu vermeiden, vom Feuilleton hymnisch gelobte Bücher auch noch zu besprechen.

Hier muss ich eine Ausnahme machen, dieses Buch ist fast zu schön, um wahr zu sein: Ein Lyrikband gewinnt den Preis 2015 der Leipziger Buchmesse. Ein junger Autor, 1971 in Hamburg (!) geboren, der auch in seinen Essays eine an Joachim Kalka erinnernde Reflexionstiefe entwickelt, ausgestattet mit unbegreiflichem Hintersinn, Neugierde, übersprudelnder Kreativität: Jede Seite ein neuer Spaß, ein fantastisches Lesevergnügen, man will sofort mit Rezitieren beginnen und den Lebenspartner überfallen, wecken, beteiligen. Herrlich herrlich herrlich!

Das Vergnügen gönn' ich mir!

von

Till Lindemann / Die Gedichte

Wir kennen ihn als textenden Frontmann der Band Rammstein, ein manchmal rüder Poet, radikal, nahezu pornografisch explizit. Ein rechter Bürgerschreck.

Manche seiner Gedichte sind auch so. Hart, schwer verdaulich, verstörend wie einst Wolfgang Bauer. Aber meistens ist dieser Bursche überaus empfindsam, kreativ, wortgewandt mit wachem, oft ironischem Blick. Z. B. „Größer Schöner Härter“ - ein Schmähgesang auf die ästhetische Chirurgieindustrie und ihre Kundschaft - mit dem wunderbaren Refrain

Nadel Faden Schere Licht // ohne Schmerzen geht es nicht.

Höhö.

Poetisch? Oft. Lyrisch? Immer!

Ja, ich will Gedichte lesen!